T10 - Queen of the Biomacht

queen of the biomacht
von SOPHIE REYER
mit "optischen Anmerkungen" von Harald Häuser
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 Theorie  

1. der Begriff

Das Wort „Biomacht“ leitet sich von „bios“ ab, einem Begriff, der aus dem Griechischen kommt und in der Übersetzung soviel wie „leben“ bedeutet. Aber was genau bedeutet „leben“? Für die einen fängt Politik an wo Leben aufhört, für andere wiederum ist es genau umgekehrt: Politik hat an sich schon mit Leben zu tun. Die Definition des Begriffes „Biomacht“ ist jedenfalls nicht wertfrei sondern immer konflikthaft. Es handelt sich bei „Biopolitik“ um ein theoriepolitisches Feld, in dem gearbeitet wird, und um keinen objektiven Forschungsgegenstand. Wie lässt sich nun aber dieser Begriff deuten? Die Frage ist immer, auf welchen Wortteil der Akzent gelegt wird. Ist es das Leben, oder ist es die Politik, was soll hier betont werden?
So schälen sich zwei Bereiche heraus: Zum einen der Bereich, in dem Lebensprozesse zum Gegenstand der Politik erhoben werden- wie es beispielsweise bei den Euthanasieprogrammen in Zeiten des Nationalsozialismus geschah- und zum anderen der Bereich, in dem es zur Regulierung des Lebens DURCH Politik kommt.
Deutet man den Begriff naturalistisch- polizistisch, so steht das Leben über der Politik; geht man jedoch von einem rational- historischen Begriff aus, so verhält es sich genau umgekehrt.
Die von Foucault vorgeschlagene Klassifizierung ist die, dass es, wenn „Biopolitik“ oder „Biomacht“ betrieben wird, zu einer Abstraktion des Lebens von den substanzhaften Trägern kommt. So gibt es beispielsweise im Zeitalter der Biomacht keine singulären Existenzen mehr sonder sogenannte „Bevölkerungen.“
Zu wichtigen Strömungen der Biopolitik kann man z.B. die Entwicklung modernen Wissens in Statistik sowie Demografie zählen. Dass es dem Menschen nun möglich ist, in die biologischen Verhältnisse ein zu greifen und diese zu regulieren, verändert seinen Umgang mit der Welt. Natur ist kein selbstständiges Substrat mehr sondern ein Korrelat der Regierungshandlungen.
Neuerungen, was den von Michel Foucault entwickelten philosophischen Diskurs über den Begriff „Biopolitik“ anbelangt, haben sowohl Giorgo Agamben als auch Michael Hardt und Antinio Negri mit ihren Theorien gebracht. Bei Agamben taucht erstmals die Trennung zwischen nacktem Leben und politischer Existenz auf, während Hardt und Negri die Theorie vertreten, dass es in unserer Gesellschaft zu einer Auflösung der Grenzen zwischen Ökonomie und Politik kommt.
Ein weiteres Aufgreifen des Diskurses finden wir später auch bei Agnes Heller und Frenc Fehér, deren These lautet, dass es  durch zuviel Berücksichtigung biopolitischer Faktoren zu einer Regression der Politik an sich komme.1

Als nächstes sei eine kurze historische Abhandlung des Begriffs „Bios“ präsentiert:  Der Bereich der Lebensphilosophie wurde erstmals zur 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts durch bestimmte Philosophen wie Schopenhauer, Nietzsche oder auch Bergson thematisiert. Den Beginn eines Diskurses über Biopolitik kann man auch in den Arbeiten und Theorien von Rudolf Kjéllen aus dem Jahre 1924 sehen, der den Staat als ein Lebewesen begrif. Dieser prägte den Terminus „Kollektivsubjekt“. Kjéllen vertrat die These, dass soziale und politisch- rechtliche Bindungen auf einer Ganzheit beruhen würden, die das Echte und Ewige verkörpert. Zweifelsohne ein mythischer und idealisierter Zugang2
(Nicht umsonst also wird in meinem Text „vogelglück“ die Biomacht personifiziert und als große Königin angebetet.)


2. Staatsbiologie/ Biopolitik

In Zeiten des Nationalsozialismus wurde erstmals auch der Begriff des Volkskörpers eingesetzt. Darunter versteht man eine rassische, homogene Gemeinschaft, die autoritär geführt wird. Soziale und politische Probleme seien auf erbbiologische Unterschiede zurück zu führen, so die Ideologie.  Dass dieser Ansatz überaus gefährlich und nicht wissenschaftlich fundiert ist, sei dahin gestellt. Im Nationalsozialismus wurden unterschiedliche Theorien in eine politische Ideologie integriert: Sowohl Sozialdarwinismus als auch Pan- Germanismus wurden für politische Zwecke instrumentalisiert und missbraucht. Otmar Freiherr von Verschuer mag als einer der Vertreter zu nennen sein. Die Erbanlage ist in seiner Theorie eine Reaktionsmöglichkeit, mit Rassenproblemen umzugehen.


3. NS- Regime und Biopolitik

Die Erschaffung von Leben, eine rassenhygienische und erbbiologische Grundierung der biopolitischen Programmatik sowie die Kombination mit geopolitischen Ideen war in Zeiten des NS- Regimes ein wichtiges Instrumentarium. Positive und negative Eugenik wurde erstmals be- sowie an die Spitze ge- trieben: „Minderwertiger“ Nachwuchs- sprich Behinderte, Juden, Schwule, Roma und Sinti sowie viele andere Randgruppen- fielen in den Bereich  „lebensunwertes Leben“ und mussten demnach vernichtet werden. Die Gefahren der Rassenmischung waren gefürchtet. Das „Reich“ kannte demnach sowohl einen innerer als auch einen äußerer Feind: Im Inneren durfte sich das Blut reiner Rassen und minderwertiger Rassen nicht vermengen; im Äußeren galt es, den Lebensraum der gesunden Rasse durch Krieg und Heirat sowie geschlechtliche Reproduktion so weit wie möglich aus zu breiten.


4.Biopolitik in den USA

Die Rockefeller Stiftung hat in den USA in den 30igern massiv in Molekluar- Biologie investiert: Instrumente sozialer Kontrolle, um menschliches Verhalten zu steuern und zu optimieren, sollten entwickelt werden. Die „Biopolitics“ ist demnach zu einer neuen Wissenschaft geworden. An der Sozialwissenschaft wird seitdem Kritik geübt; zwischen biologischer Herkunft und politischem Verhalten wird ein Zusammenhang konstruiert. Hier finden wir auch heute noch unterschiedliche Strömungen. So schrieb der Wissenschafter John P. Rushton im Jahre 1998, die schwarze Hautfarbe bedinge eine höhere Kriminalitätsrate. Das Problem stellt hier nicht die Tatsache dar, dass die biologischen Faktoren für die wissenschaftliche Analyse der Gesellschaft wichtig sein mag, sondern eher, wie die Interaktions- Dynamik zwischen Hautfarbe und kriminellem Verhalten gefasst wird. Bis jetzt konnte diese Pseudo- Wissenschaft keine überzeugenden Ergebnisse liefern. Auch ist es eine Tatsache, dass die genetische Regulation des politischen Verhaltens in keinster Weise dem Stand der Wissenschaft entspricht. In allen existierenden Thesen wird Natur als abgeschlossene Sphäre gesehen, die politisches Handeln prägt: Der Dualismus wird aufrecht erhalten, der von den Vertretern dieser Strömungen doch eigentlich kritisiert wird. Ein Paradoxon an sich.3


5. Ökologische Biopolitik

In den 1960iger wurde nicht mehr die Frage gestellt, wie das genetische Material politisches Verhalten kreiert, sondern der Fokus wurde auf einen Diskurs gelegt, der die Frage nach der Verantwortung von uns Menschen, nach unserer Haltung politischem Handeln und der Natur, dem Leben gegenüber, stellt. Der Lebensprozess wird nun zum Gegenstand politischen Handelns erhoben.
Mehrere Strömungen entstehen. So. z.B.  Kenneth Cauthens´ „Christian Biopolitics“, ein Werk mit utopischen Ansätzen. In seiner Idee der planetarischen Gesellschaft soll es Menschen bald gelingen, andere Planeten zu bevölkern. Das Christentum als Ideologie sei hierbei eine wichtige Basis, wenn es darum ginge, Werte  und Verantwortung in den Kosmos hinaus zu tragen, so der Autor.
Eine weitere jedoch weniger humane und eher zweifelhafte Vereinigung ist die „Sektion des Weltschutzes zum Bunde des Lebens“.  (WsL): Laut WsL stellt die Überbevölkerung ein Problem dar; Artikel von dieser Vereinigung finden wir unter anderem übrigens auch in rechtsextremistischen Zeitungen. Die zivilisationskritische Tradition der Konservativen Revolution der Weimarer Zeit und der Nationalsozialisten wird in dieser Bewegung rund um die WsL unhinterfragt fort gesetzt.4


6. Technikzentrierte Biopolitik

Im Jahre 1973 wurde erstmals eine gentechnische Übertragung der DNA möglich. Erbinformationen verschiedener Organismen konnten kombiniert und reproduziert werden. Die  Grenze zwischen Natur und Kultur begann mit einem Male, brüchig zu werden; sie musste neu definiert werden. Das hatte freilich rechtliche Anstrengungen zur Folge. Die Frage der Bioethik stellte sich neu: Was wird an Forschung vom Staat gefördert und was wird verboten? Neue  Gesetze mussten angedacht und festgelegt werden. Biopolitik war nun nicht mehr ein Teil der Politik sondern in deren Kern bereits vorhanden. Neue Zentren begannen, sich heraus zu bilden, wie etwa das der Fortpflanzungsmedizin  und das der Humangenetik; aber auch Hirnforschung und  kosmetische Chirurgie fanden sich plötzlich mit neuen Themen konfrontiert.5


7. Foucault

Der Philosoph Foucault sieht Biopolitik dezidiert als eine moderne Form der Machtausübung. Eine fundamentale Veränderung in der Ausübung des Politischen sei im Zeitalter der Biopolitik entstanden. Erstens sei durch die Biopolitik eine Zäsur im politischen Handeln passiert. Zweitens sei Biopolitik wichtig bei der Entstehung des modernen Rassismus. In seinen Werken stellt der Philosoph den Begriff der Biomacht dem der Souveränitätsmacht gegenüber. Während es der Souveränitätsmach um die Abschöpfung von Gütern, also von Produkten und Dienstleistungen, ging, so rückt im Zeitalter der Biomacht das Recht über Leben und Tod ins Zentrum. Das zeigt sich in den Bereichen der Reproduktion, der In- Vitro- Fertilisation, der Eugenik et cetera. Die historischen Voraussetzungen für Biomacht sind laut Foucault folgende gewesen: Die landwirtschaftliche Produktion hat sich gesteigert und das Wissen über den menschlichen Körper ist immer spezifischer geworden. Es kam einerseits zur Disziplinierung des Individualkörpers im Kleinen und andererseits zur Regulierung der Bevölkerung im Großen; im Gegensatz zur Sklaverei werden heutzutage die Kräfte der Körper zum Zweck wirtschaftlichen Nutzung gesteigert und zum Zweck der politischen Nutzung geschwächt. Dabei gilt folgender Mechanismus: Der Körper ist umso gefügiger, je nützlicher er ist- und umgekehrt. Er wird zur Ware. Es gilt, immer einem Ideal nachzustreben. (So sagt auch die Königin der Biomacht im Text „vogelglück“: „Bin die Königin der Waren.“)

Im 18. Jahrhundert entsteht schließlich das, was Foucault als „Gesellschaftskörper“ definiert,  und mit ihm eine Machttechnologie, die sich auf die Regulierung und Kontrolle dieser biologischen Einheit bezieht: Diese passiert durch die Sicherheitstechnologie und durch die Disziplinartechnologie. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts kommt es erstmals zu dieser Art der Regulierung der Bevölkerung durch den Staat; Disziplinierung und Regulierung in Wechselwirkung zwischen Individuum und Masse sind keine Gegensätze mehr sondern zwei Seiten einer Technologie. So entwickelte sich z.B: die Polizei ab dem 18.Jahrhundert zum Disziplinar- und Staatsapparat.
In einem Dispositiv, das Foucault als Sexualitäts- Dispositiv bezeichnet, sieht der Philosoph ein wichtiges Scharnier zwischen diesen Bereichen Staat und Körper: Durch Fortpflanzung kann die Sexualität sowohl auf der Mirko- Ebene des Körpers als auch auf der Makroebene des Staates eingeordnet werden. Sexualität wird zum Dynamometer bei Wahlkampagnen: Moral wird in der Politik wichtig, andererseits entwickelt sich Sexualität immer mehr zum Zeichen des Individuellen (Freud´s Traumdeutung sei hier als ein Beispiel genannt).
Die Todesmacht verschwindet nicht, aber sie wird entgrenzt und der Lebensmacht untergeordnet sowie von ihren Schranken befreit.

Die Biopolitik stürzt sich auf die Sicherung des Lebens;  Leben kann nun nach eigenen Vorstellungen erschaffen oder verlängert werden. Während aber alles darauf abzielt, Leben zu optimieren, waren paradoxerweise Kriege und Vernichtungsmöglichkeiten nie so blutig wie heutzutage. Grund dafür ist laut Foucault der moderne Rassismus, der die Funktion des Todes in der Ökonomie der Biomacht sichert.
Leben machen und sterben lassen“ heißt es in „Wille zum Wissen“ 1973 erstmals. Das ist laut Foucault Zeichen der Biomacht im Gegensatz zur Souveränitätsmacht, die Leben lässt und sterben macht. Der Philosoph unterscheidet zwei Formen von „Leben machen“: Erstens die Disziplinierung des  Individualkörpers und zweitens die Regulierung der Bevölkerung durch den Staat. Während sich die Entwicklung von Souveränitätsmacht zu Biomacht vollzieht, kommt es gleichzeitig zu einer Verschiebung des politisch- militärischen in einen rassistisch- technologischen Diskurses. Das beginnt mit der Infragestellung der königlichen Macht Ludwig des XIV in Frankreich. Hier taucht erstmals der Begriff „Rasse“ auf. Im 19. Jh. gibt es schließlich eine offene biologische Umschrift der Rassen, noch vor Darwin. Wenig später schon entsteht eine weitere wichtige Transformation: Das Thema der politische Rasse wird durch das Thema der soziale Klasse ersetzt. Die Reformulierung der politischen Problematiken münden Ende des 19. Jahrhundert in einen politisch- sozialen Diskurs. An Stelle des historisch- politischen Themas des Krieges tritt hier das Thema des biologischen Kampfes ums Überleben.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch folgende Frage: Wie kann eine Macht töten, wenn es ihr darum geht, Leben zu machen? Der Rassismus ist die Antwort. Er vollzieht Einschnitte im Sozialen, die die Aufspaltung einer Gesellschaft in Gute und Schlechte, Höhere und Niedere ermöglichen. Im 19. Jahrhundert verschiebt sich die Vorstellung einer Pluralität von Massen hin zu einer Singularität von Massen, die nicht mehr von außen bedroht wird, sondern von innen: Die Gesellschaft richtet ein Art des Rassismus gegen sich selbst. Homogenisierung und Hierarchisierung gehen gleichzeitig von Statten.
Eine weitere Funktion des Rassismus ist allerdings die: Es wird zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben unterschieden.
So entsteht also demnach eine Hierarchisierung von Lebenswerten. Außerdem wird die Gesundheit des einen in ein direktes Verhältnis zum Verschwinden des anderen gebracht. Der Staat ist jetzt nicht mehr das Instrument einer Rasse gegen eine andere sondern ist der Beschützer der Reinheit einer Rasse. Im 20. Jahrhundert passieren schließlich zwei weitere grundlegende Transformationen:
Es entsteht erstens das Modell des Ns- Staates und zweites das der Sowjetunion. Während beim Ns- Staat die Idealisierung höhen Blutes sowie Dramatisierung und Völkermord im Zentrum stehen, so gestaltet sich das zweite Modell eher diskret. Eine medizinische Polizei hat die Aufgabe, alles, was nicht ins Schema passt, als verrückt oder krank zu stigmatisieren und es wieder aus dem Gesellschaftskörper zu entfernen.
Fouceault´s Theorie weist jedoch einige Lücken und Defizite auf. So wird beispielsweise der Kolonialismus kaum erwähnt. Dennoch kann seine Theorie als eine Basis für den Diskurs rund um die Thematik des Begriffs „Biopolitik“ gesehen werden.6


8. Politische Ökonomie und liberale Regierung

Der Liberalismus führte eine Rationalität des Regierens ein, die weder mittelalterliche Herrschaftskonzepte noch die frühneuzeitliche Staatsräson- sprich das Streben nach Sicherheit im Staat- kannten: Die Vorstellung einer Naturalität der Gesellschaft. Früher nahm man an, dass die Ordnung des Staates von Gott gegeben sei. Erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich die politische Ökonomie als Wissensform: Als Orientierung diente von nun an das Modell des Marktes. Es ging nicht mehr nur um die Maximierung der Kräfte des Staates, vielmehr rückte eine ökonomische Form der Regierung mehr und mehr in den Vordergrund. Historische Verschiebungen entstanden zwar nach und nach, aber es kam zu keiner Reduktion staatlicher Macht. Der liberale Rückgriff auf die naturale Metaphorik diente dazu, sie hinter sich zu lassen. Die modernisierte Sicherheitstechnologie sollte eine freie, natürliche Selbstregulierung der Bevölkerung  absichern und eingrenzen.
Unter dem Begriff des Liberalismus versteht man nun eine spezifische Kunst der Menschheitsführung, die sich an der Bevölkerung als eine neue politische Figur orientiert und über die politische Ökonomie als Interventionstechnik verfügt. Jedoch kommt es in so einem System nicht zur Reduktion staatlicher Macht.7


9. Giorgio Agamben:

Giorgio Agamben´s wichtigstes Werk ist wahrscheinlich „Homo sacer“ aus dem Jahre 1995.  Hier bezeichnet der Philosoph die Gegenwart als katastrophischen Endpunkt der politischen Situation; es gäbe eine innerste Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus . Philosophen wie Walter Benjamin, Hannah Ahrendt, Georges Bataille und auch Michel Foucault schufen als Basis die Trennung zwischen nacktem Leben („zoé“) und politischer Existenz („bios“); diese Unterscheidung ist aber laut Agamben erst der Anfang. Politik entsteht in seiner Theorie durch das Markieren einer Grenzlinie, die zum Schutz um das Gesetz gezogen wird. Unter einem „Homo sacer“ versteht Agamben demnach einen Menschen, den man straflos töten darf. Nacktes Leben, das ist etwas, das für Staatslose, Flüchtlinge und Hirntote gilt- ihnen widerfährt kein Schutz durch das Gesetz.8


10. Lager

Das Lager sei „das Paradigma der Moderne“, meint Agamben. Es fixiert die Grenze zwischen „zoe“ und „bios“: „Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn ein Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“ heißt es in „Homo sacer“ auf Seite 177. In der biopolitischen Moderne verschiebt sich laut Agamben diese Grenze; die Rechte der Individuen werden ihnen zwar zugestanden, gleichzeitig schreiben diese sich dadurch aber auch mehr in die Macht ein, von der sie versucht hatten, sich los zu machen. Biopolitische Tendenzen haben Agamben´s Meinung nach eher zu-  als abgenommen. Nach der Nazizeit und dem Stalinismus sei die Schwelle der biopolitischen Problematik  überschritten worden. In den modernen Demokratien ist es, so Giorgo Agamben, möglich, öffentlich zu sagen, was die Bevölkerung der nazistischen Biopolitik sich nicht getraut habe zu sagen. Bei den Nazis sei die Grenze zwischen individuellen Gruppen, Randgruppen und anderen gemacht worden; in modernen Zeiten verläuft die Grenze- so Agamben´s Theorie-  mitten durch das Individuum hindurch: Das nackte Leben bewohnt inzwischen den biopolitischen Körper jedes Lebewesens.

Leider sind Giorgo Agamben´s Thesen manchmal suggestiv formuliert bzw. assoziativ gewachsen. Das Problem, das sich darstellt, ist Folgendes: Der Philosoph bleibt beim juridischen Begriff und die Individuen, die sozialen Exklusions- Prozessen ausgeliefert sind, werden nicht in den Diskurs einbezogen. Agamben vergisst damit, dass Biopolitik nicht nur ein Anliegen staatlicher sondern auch autonomer Subjekte ist. Sein Fokus auf den Nationalsozialismus kann als ein zu extremer gesehen werden. Heute zieht sich der Staat, wie man anhand einiger konkreter Beispiele sehen kann, zwar immer mehr zurück. Doch auch das ist eine Strategie, Schutz zu verweigern. Diese Tatsache wird bei Agamben außer acht gelassen. Ein weiteres Problem stellt Agamben´s Argumentation dar: Der Autor argumentiert ontologisch und  führt keine historisch- gesellschaftliche Differenzierung des Begriffs „Biopolitik“ einführt. So bleibt der Begriff ein Abstraktum. Dem binäre Code des Rechts, den Agamben eigentlich zu kritisieren meint, ist er so doch weiterhin verpflichtet.9


11. Kapitalismus und lebende Vielheit: Michael Hardt und Antonio Negri

Biopolitik steht für eine neue Form der Vergesellschaftlichung, in der sich die Grenzen zwischen Ökonomie und Politik sowie zwischen Reproduktion und Produktion auflösen, so die Philosophen Michael Hardt und Antonio Negri.
Die Bücher von Michael Hardt und Atonio Negri heißen: „Empirie. Die neue Weltordnung“ (2002) und „Multitude. Krieg und Demokratie im Empire“ (2004).
Das Philosophen- Duo setzt sich kritisch mit dem bei Foucault und Agamben entwickelten Topos „Biomacht“ auseinander.10Hardt und Negri stellen sich die Frage, wie es möglich ist, dass Arbeit, die doch an sich ein lebensbejahendes Potential hat, zur Bedeutung kapitalistischer Disziplin, Ausbeutung und Dominanz in unserer Gesellschaft werden kann. Dabei analysieren Hardt und Negri die Rolle der Arbeit im Prozess der kapitalistischen Produktion und kritisieren liberale und sozialistische Ideen des Arbeitsbegriffes sowie institutionelle Reformen von einem radikal demokratischen Standpunkt aus.11


12.  Ausprägungsformen

Bei dem Begriff der Biomacht handelt es sich nach Foucault, wie bereits im oberen Kapitel erwähnt, um jene politische Macht, die das Leben im Allgemeinen vereinnahmt. Zielsetzung dieser Macht sei es, so der Philosoph, eine normalisierte Gesellschaft zu kreieren, in der die Gouvernementalität, die sich der Lebensprozesse annimmt, sich für die Entwicklung der Individuen der Bevölkerung zuständig fühlt. Das erstreckt sich von den Bereichen Ernährung, Hygiene sowie Gesundheitsvorsorge und Zuwanderung bis hin zur Medizin und dem Einsatz psychotroper Substanzen.
Im Sinne der Biomacht ist es, Leben zu optimieren, zu steigern, zu regulieren. Während, so Foucault, die Gesellschaften früher bestrebt waren, „leben zu lassen und sterben zu machen“, hat sich dieses Verhältnis im Zeitalter der Biomacht umgedreht. Es geht nun darum, „leben zu machen und sterben zu lassen.“ Der Mensch wird zum Schöpfer.12

Die heutigen Ausprägungsformen dieser Art der Optimierung ziehen sich, wie bereits erwähnt, durch alle Lebensbereiche: Sie reichen von der Impfpflicht, der biometrischen Erfassung des Organhandels über die Schönheitschirurgie bis hin zum Diätenwahn, zum Bild des Jungenmädchen und zur Immigrationspolitik.
Ein neuer Trend, der diese Form der Herrschaft über den eigenen Körper auf die Spitze treibt, wäre das sogenannte „Self- Tracking“, bei dem Menschen freiwillig ihre eigenen Körperfunktionen akribisch genau dokumentieren und auswerten. Sub- optimale Vorgänge im eigenen Körpersystem sollen nicht nur überwacht sondern freilich auch verbessert werden.13

Durch die Disziplinierung des Körpers- eben wie z.B. mittels Self- Tracking und Self- Enhancing- sowie durch die Regulierung der Bevölkerung entstehen neue Rechte wie beispielsweise Das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheit oder das Recht auf Sexualität.
Neue Kämpfe werden heute ausgetragen: Die der Friedensbewegungen, die der Frauenbewegung, die der Schwulen- und Lesben- Bewegung, um nur einige zu nennen. Bestimmte politische und soziale Gruppierungen versuchten und versuchen, sich gegen das Regieren einer biopolitischen Instanz durch Individualisieren zu wehren. Sie treten vehement für das Recht auf Anderssein (sei es nun im Bereich Körper, Geschlechtsentwurf, Rassenentwurf) einerseits aber auch gegen das, was das Individuum isoliert oder von der Gemeinschaft abspaltet soll andererseits ein. Als Widerstand gegen die Naturalisierung der Macht soll beispielsweise eine Lebenskunst entworfen werden, wie sie in der griechischen Antike existiert hat. Menschliche Existenz soll wieder als Kunstwerk verstanden werden,  die „Ästhetik der Existenz“ wird zum Parameter der Lebensführung.14

Wie bei allen fragwürdigen Strömungen gibt es also auch gegen die Vorherrschaft der Biomacht inzwischen spannende Bewegungen in den Bereichen Kunst, Kultur und Wissenschaft, die sich mit biopolitischen Vorgängen befassen, sie durchleuchten sowie sie zu stören versuchen.15

Eine weitere Art und Weise, wie sich auf dieses Gesellschaftssystem reagieren lässt, wäre das Bio- Hacking. MedienaktivistInnen benutzen nun vermehrt unreine Theorien, indem sie die Sprache der Wissenschaft in Frage stellen, eine Art und Weise des Ausdrucks suchen, die sich von der institutionell abgesicherten Sprache abhebt. Denn die Ausübung von Biomacht zeichnet sich auch dadurch aus, dass ExpertInnenwissen sich meist bestimmter Codes bedient, die der allgemeinen Gesellschaft nicht zugänglich sind. Jedoch geht es besagten MedienaktivistInnen nicht darum, ExpertInnenwissen vorzukauen bzw. für die Allgemeinheit so zu verpacken, dass es dieser verständlich wird. Vielmehr soll es Laiengruppen ermöglicht werden, sich biotechnologisches Wissen als Allgemeingut aneignen zu können.16

Genau so gibt es auch SchriftstellerInnen, die sich in ihrer Sprachbehandlung von dem in Moment vorherrschenden Prosastil des Mainstream abheben, mit semantischen Strukturen brechen und neue Formen des Ausdrucks suchen. Ein Beispiel hierfür wäre Hélène Cixous, die in ihrer „écriture feminine“ eine Art des Schreibens betreibt, das sich viel eher am Klang der Sprache entlang tastet, als dass es sich an einem stimmigen Gesamtkonzept abarbeitet oder eine traditionelle Form bedient. So wird die Produktionsmaschinerie nicht einfach beliefert; vielmehr kommt es zur Auslotung neuer Bereiche und Möglichkeiten, Sprache zu denken.17

Eine ähnliche Herangehensweise lässt sich auch bei den Projekten des „Institute of Applied Autonomy“ feststellen. Das „Institute of Applied Autonomy“ experimentierte beispielsweise mit einem selbst gebauten Roboter, der den Leuten auf der Straße avantgardistische Formen der Sprachbehandlung näher bringen sollte. ExpertInnenwissen und deren Umgang mit Sprache wird bei dieser Art von Aktionen nicht nur diskursiv sondern auch technologisch angegriffen18.

Ein großes Problem, das der Diskurs der Biomacht mit sich bringt, ist das, dass Biomacht einen Bereich des Außer- Natürlichen vom Leben trennt. Dadurch ergibt sich eine gewisse Nähe zum Genre des Science Fiction. Aus diesem Grund habe ich meine eigenen Theatertexte auch in einer Science- Fiction- Welt angesiedelt und spiele immer wieder auf Schöpfungsgeschichten alter Kulturformen an. Doch dazu später.

Eine Künstlergruppe, die sich intensiv mit dem Spiel der schöpfungsgeschichtlichen Codes und somit auch mit Mythenbildung und Science- Fiction auseinander setzt, wäre „the Critical Art Ensemble“. In „cult of the new eve“ beispielsweise wird eine neue Generation, genannt „2nd Generation“, angekündigt, die sich jenseits traditioneller Männlich- und Weiblichkeitsdichotomien ansiedeln soll. In der Arbeit „flesh machine“ werden unterschiedliche Facetten der Biomacht durchleuchtet und listenartig aufgezählt. Die Trennung von Sexualität und Reproduktion soll verneint, der Wert und die Stimme von Amateuren und Nichtspezialisten forciert, die Achtsamkeit gegenüber des Zusammenhangs zwischen Sexualität und sozialer Verantwortlichkeit klar gemacht werden. Denn im Zeitalter der Biomacht wurden Sexualität und Lust von dem Bereich der Empfindsamkeit auf den Bereich der Vermittlung verschoben, so Franco Berardi. Der Körper im Körper des Anderen wird nicht mehr wahrgenommen, soziale und ethische Verantwortlichkeit ist zu Gunsten der Diktatur des Neoliberalismus zurück getreten. In dem Moment jedoch, in dem die Ko- Präsenz des einen Körpers im anderen, indem „das eigene Atmen“ und die Verbundenheit gespürt wird, kann es wieder zu einer sozialen und ethischen Haltung kommen, in der es nicht darum geht, Bedeutung an sich zu schaffen, sondern vielmehr Macht und Dogmatismus ironisch zu kritisieren.19

Ein weiteres wichtiges Feld, das es zu beleuchten gilt, ist die Eugenik. Unter Eugenik wird die Anwendung wissenschaftlicher Ideen auf die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik verstanden, deren Zielsetzung es- wieder im Sinne der Biomacht- ist, den Anteil an positiven Genen zu vergrößern. Neben der Optimierung des menschlichen Körpers sind im Zeitalter der Biomacht auch gentechnisch verändertes Saatgut sowie der Einsatz von biologischen Waffen, künstliche Befruchtung und andere Aktivitäten der Reprodukitonsindustrie ein wichtiges Thema. Die kritische Beschäftigung mit diesen Sujets in der Kunst kann als eine besondere Form des Widerstandes gelesen werden.20

Auch im Bereich des Feminismus gibt es einige wichtige Künstlerinnen, die sich im Besonderen damit auseinander setzen, inwieweit der weibliche Körper als Reproduktions- Organimsus von den Strukturen der Biomacht durchdrungen wird. SubRosas Herangehensweise nimmt den Faden Donna Haraways und ihres Schülers Chris Habble Gray´s Cuboyrg- Diskurs wieder auf. In „A Cyborg Manifesto“ propagierte Donna Haraway bereits im Jahre 1985 einen „ironischen Traum einer gemeinsamen Sprache für Frauen“.21

Eine weitere Gruppe, die sich intensiv mit dem Begriff der Biomacht auseinander setzt und aktivistisch arbeitet, wäre „mayday wien.“ Diese Vereinigung versucht, da das Prekariat in keiner gesellschaftlichen Form repräsentiert ist, diesem eine eigene Stimme zu geben.
Als wichtige Aspekte können hier beispielsweise Streiks, lose organisierte Gruppentreffen, das Erstellen von Blogs im Internet und organisierte Vorträge genannt werden.22Das Internet ist im Übrigen, da es die Menschen, die es bedienen, entkörpert, auch ein geeignetes Medium, durch das Biomacht ausgeübt werden kann und wird.

Auch im „Guerilla Gardening“ kann eine Form des Widerstandes gesehen werden: das Streuen von Samenbällen im öffentlichen Raum sowie das Anbringen von Moosgraffiti an öffentlichen Plätzen ist eine Gegenbewegung zur Vorherrschaft der Biomacht, wenngleich ihr auch der Geschmack der Öko- Unschuld anhaften mag. Mittels Aktionen im öffentlichen Raum soll es bei diesen performatorischen Ereignissen zu einer Kooperation von Mensch und Natur kommen, indem Eigentumsrechte verletzt werden und der Kampf gegen Landknappheit gekämpft wird. In meiner Kurzdokumentation „hallo Gartenpiraten“ habe ich mich mit einem Guerilla Gardener unterhalten und ihn zwölf Stunden bei seinen Interventionen neben der Hauptuniversität Köln begleitet. Stefano Chiolo, mein Protagonist, bringt nicht nur immer wieder Laubbälle, Moosgraffiti und andere Objekte im öffentlichen Raum an, die der Sensibilisierung der Gesellschaft dienen sollen; er betreut auch noch die Pflanz-Stelle Kalk, in der er Menschen unterschiedlichen Alters und aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten das Anbauen von Gemüse und Getreide nicht nur beibringt sondern auch ermöglicht. Doch wie kann Widerstand in Kunst übersetzt werden?

1 Vgl.: Thomas Lemke: Biopolitik. Zur Einführung. Junius Verlag Gmbh, Hamburg 2007, S.9f.
2 Vgl.: ebd.
3 Vgl.: ebd.
4 Vgl.: ebd.
5 Vgl.: ebd.
6 Vgl.: ebd.
7 Vgl.: ebd.
8 Vgl.: ebd.
9 Vgl.: ebd.
10 Vgl.: ebd.
11Vgl.: ebd.
12 Vgl.: ebd.
13 Vgl.: ebd.
14 Vgl.: ebd.
15 Vgl.: ebd.
16 Vgl.:http://www.medienimpulse.at/articles/view/429, Stand vom: 3. Mai 2013.
17 Vgl.: ebd.
18 Vgl.: ebd.
19 Vgl.: ebd.
20 Vgl.: ebd.
21 Vgl.: ebd.
22 Vgl.: ebd.
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